9. Kapitel
Wie das mit dummen Zufällen so war: Lea hatte gleich zwei davon in einer Woche. Wer immer dort oben saß und ihr Leben für sie plante, musste sich den Bauch halten vor Lachen. Nicht genug, dass sie vor vier Nächten auf so seltsame Art und Weise mit dem Mann zusammengetroffen war, jetzt lief er ihr schon wieder über den Weg!
Sofort, nachdem Marco sie vorgestellt hatte, zog sie ihn beiseite und sagte, sie müsse sofort gehen, es sei dringend.
Sie hatte sich ohnehin aus dem Staub machen wollen, und dieses unglückliche Zusammentreffen mit den dreien machte ihr die Entscheidung umso leichter. Glücklicherweise schien Mrs. Bilen geradezu entzückt darüber zu sein, Marco an ihren Tisch bitten zu können. Das enthob Lea ihres schlechten Gewissens.
Aber das schlechte Gewissen wäre im Moment ohnehin ihre geringste Sorge gewesen: Ihr anderes Problem hatte sich nämlich bereits wieder in den Vordergrund gedrängt.
»Diese Leute, wer waren?«
Lea durchquerte mit geballten Fäusten und laut klappernden Absätzen die Gott sei Dank vollkommen leere und stille Eingangshalle des Hotels. Ja, wer waren diese Leute? Das zu erklären hätte eine Menge Zeit in Anspruch genommen, Zeit, die Lea weder hatte, noch sich nehmen wollte. Außerdem war sie sich gar nicht sicher, ob Isabella die Antwort wirklich interessierte. Die argentinische Studentin war erst heute Vormittag infolge einer Reihe unglücklicher Zufälle, die dazu führten, dass sie versehentlich ein falsches Sandwich aß, gestorben. Es war ein Erdnussbutter-Sandwich gewesen, und Isabella war höchst allergisch gegen Erdnussbutter. Als die anderen endlich merkten, dass sie keine Luft mehr bekam, war es bereits zu spät.
»Das ist jetzt egal, Isabellä. Ich bitte dich, konzentriere dich! Ich will dir ja helfen, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass du nur deshalb nicht ins Licht gehen kannst, weil ...«
»Ach ja? Du nicht glauben?! Aber du sagen, ich nachdenken und erster Grund, das kommt in Kopf, ist richtiges!
Und das ist Grund, das kommt in Kopf!«
Lea trat hinaus ins Freie. Die Kälte des Oktoberabends traf sie wie eine willkommene Ohrfeige. Sie war vollkommen ratlos. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Aus den alten Stallgebäuden gegenüber drang herrliche Geigenmusik, begleitet von einem Klavier, einer Gitarre, einem Bass und ein paar weiteren Streichinstrumenten. Die schöne Musik beruhigte Leas blank liegende Nerven, und ein tiefer Friede breitete sich in ihr aus.
Da hörte sie in der diesigen Luft ein leises Schluchzen.
Ach du meine Güte.
»Isabella, bitte, so weine doch nicht! Mach dir keine Sorgen ...«
»Es t-tut mir leid, Lea, ich ... ich ... no entiendo. No entiendo. Warum?«
Ja, warum? Lea war zwar nicht sicher, ob Isabella weinte, weil sie gestorben war oder weil sie hier ›hängen gebliebem war - aber beides schien unfair. Sie wollte und musste diesem armen Mädchen helfen. Irgendetwas würde ihr schon einfallen.
»Eine Demonstration, hast du gesagt? Eine Art ... Vorstellung, dir zu Ehren? Ist das richtig?«
»Si.«
»Wie wär's mit einem Tanz? Ginge das? Eine Tanzvorstellung, dir zu Ehren?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht?«
Vielleicht war besser als gar nichts. Lea hatte eine Idee ... Entschlossen machte sie sich auf den Weg zu den Ställen.
Was sie jetzt brauchte, war ein Schnaps.
Oder auch zwei.
Adam stand auf der Treppe vor dem Hoteleingang und schaute zu den Ställen hinüber. Die Festveranstalter hatten sich wirklich ins Zeug gelegt: Weiße Zelte umgaben den schönen alten venezianischen Springbrunnen. Zwischen den kunstvoll gestutzten Bäumen und Hecken waren Heizelemente aufgestellt worden, damit es den Reichen und Schönen nicht kalt wurde. Weißbehandschuhte Kellner schritten mit Silbertabletts zwischen den Gästen herum und servierten Häppchen und Champagner in langstieligen Gläsern.
Er wusste selbst nicht, was ihn dazu veranlasste, Miss Lea Donavan zu folgen, aber er hatte das Gefühl, dass sie noch nicht ganz miteinander fertig waren. Verletzter Stolz vielleicht. Sie hatte ihn früher erkannt als er sie. Und dabei vergaß er nie ein Gesicht!
Wie hatte er diese Augen vergessen können? Es ergab keinen Sinn. Sie ergab keinen Sinn. In dem einen Moment eine alte Schachtel, im nächsten Moment eine glamouröse Erscheinung. Und nun hatte sie Marco Venetto einfach stehen lassen, der ganz offensichtlich mehr als glücklich gewesen wäre, sie großzügig mit einfach allem zu überschütten, was sie sich nur wünschte. Doch sie war stattdessen in Richtung Party bei den Stallungen aufgebrochen.
War es das? War er ihr nur deshalb gefolgt, weil er nicht aus ihr schlau wurde? Das allein konnte es doch nicht sein.
Trotzdem, er wollte und musste mehr über sie herausfinden. Bei diesem Gedanken krampfte sich sein Magen erwartungsvoll zusammen. Ja, das musste es sein: reine Neugier. Er zog den Kopf ein - es hatte in dicken, trägen Tropfen zu regnen begonnen - und lief über die gekieste Auffahrt zu den alten Stallgebäuden hinüber. Er tauchte in eins der weißen Zelte ein, nahm sich ein Glas von einem vorbeikommenden Tablett und schnupperte an der goldgelben Flüssigkeit: Whisky. Adam nahm einen genießerischen Schluck, dann ließ er sich von seinen Ohren zum Musikzelt leiten.
Als Adam das Zelt betrat, ging soeben ein Walzer zu Ende, und er sah ein ältliches Pärchen die Tanzfläche zu seiner Rechten verlassen. Er wandte sich nach links, hin zur Kapelle. Dort blieb er dann mit seinem Drink stehen und lächelte einigen Damen zu, die kichernd und tuschelnd seine Aufmerksamkeit zu erregen versuchten.
Eine hob gar auffordernd die Brauen, was ihn zum Lachen reizte. Sie war eine ganz besondere Schönheit: rothaarig, mit üppigen Kurven, in einem eng anliegenden, weißen Paillettenkleid. Wenn er nicht mit den Gedanken woanders gewesen wäre, wer weiß ...
Ein temperamentvoller Gitarrenakkord ließ die Gäste verstummen. Eine Frau trat auf die Tanzfläche, und aller Augen richteten sich auf sie. Adam trat unwillkürlich einen Schritt vor: Es war Lea! Langbeinig, in Stiletto-Sandalen, die nur von einem dünnen Riemchen gehalten wurden, trug sie dieses lange, eng anliegende schwarze Schlauchkleid, ohne jeden Schmuck, nichts, das von ihrer schlanken Figur, ihrer hochgewachsenen Gestalt ablenkte.
Sie war einfach umwerfend.
Mitten auf der Tanzfläche blieb sie stehen, und Adam grinste erwartungsvoll. Ganz offensichtlich stand ihm eine weitere Überraschung bevor. Ein schelmisches Lächeln breitete sich über Leas Gesicht, während sie langsam mit den Händen über ihren Körper strich, bis sie den kleinen Schlitz in ihrem Kleid erreichte, am rechten Saum. Der Pianist spielte einen lauten Akkord, die Damen keuchten auf, und Lea riss den Saum des Kleides auf, bis hinauf zur Hüfte. Was für eine Schauspielerin!
Wie gebannt trat Adam vor. Lea hob die Arme. Langsam zunächst, dann allmählich immer schneller, begann sie zu tanzen. Dass sie alleine tanzte, spielte keine Rolle.
Diese Frau brauchte keinen Tanzpartner. Sie hob ihr rechtes Bein, bog die Wade, machte einen Ausfallschritt. Ein paar Fingerbreit nackter Oberschenkel wurden sichtbar und ein Straps, der einen schwarzen Seidenstrumpf festhielt. Einige der etwas konservativeren Gäste schnappten hörbar nach Luft. Adam konnte förmlich hören, wie die versammelte Männerwelt schluckte.
Was hatte sie vor? Vollkommen versunken tanzte sie den argentinischen Tango, als wäre es ihr angeboren, als wäre sie in einem Bordell in Buenos Aires zur Welt gekommen. War sie eine Trickbetrügerin? Spielte es überhaupt eine Rolle?
Nicht wirklich. Jedenfalls jetzt nicht, in diesem Moment, in dem sie ihn mit ihrem Tanz verführte. Er verspürte den starken Drang, zu ihr auf die Tanzfläche zu gehen, mit ihr zu tanzen, sie zu erobern - aber er widerstand. Er wollte den Zauber nicht brechen, mit dem sie ihn und alle Anwesenden im Zelt gefangen hielt.
Der Rhythmus wurde immer schneller. Lea wirbelte herum, mit anmutigen Armbewegungen und weiten, ausgreifenden Schritten. Wie gebannt folgte ihr jedes Augenpaar. Und als die Musik schließlich ihren Höhepunkt erreichte, mit einem stürmischen Crescendo verklang, da warf sich Lea zu Boden und blickte nach oben, wobei sich ihre Brust unter schweren Atemzügen hob und senkte.
Stürmischer Applaus erfüllte das Zelt, aber Lea schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen. Ihr Blick war noch immer nach oben gerichtet, als würde sie etwas sehen, das andere nicht wahrnehmen konnten. Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie hob ihre Hand, wie um jemandem Lebewohl zu sagen. Im nächsten Moment sprang sie auf und rannte, ungeachtet der Rufe, die ihr folgten, von der Tanzfläche und verschwand in der Menge.
Adam folgte ihr sogleich, eilte übers Parkett, versuchte sich durch die Leute zu drängen. Aber als er den anderen Zeltausgang erreichte, war sie bereits verschwunden. Eine Viertelstunde lang suchte er verzweifelt nach ihr, doch dann sah er sie zu seiner Erleichterung über den Kiesweg zum Ausgang stolpern.
»Lea?«, rief er, doch sie schien ihn nicht zu hören. Etwas an ihrem Gang machte ihn stutzig - sie schien kaum vorwärts zu kommen. Lag es an ihren hohen Absätzen? Einen Herzschlag später war er an ihrer Seite.
Er hielt sie am Arm fest und zog sie zu sich herum. Ein paar Mal blinzelte sie, sah ihn verwirrt an, dann breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus.
»Adam! Hab gerade an dich gedacht!«
»Ach ja?«
Er konnte es kaum glauben, aber die Anzeichen sprachen für sich: die glasigen Augen, der schwankende Gang ... Wie um alles in der Welt hatte sie nur so tanzen können, wenn sie ganz offensichtlich sturzbetrunken war?
»O ja!« Sie nickte ernst. »Ich will ja gar nicht, aber ...aber ... ich muss!«
Unter anderen Umständen hätte er ihr natürlich eine charmant-schlagfertige Antwort gegeben, aber Lea schien im Moment nicht sie selbst zu sein. Mist aber auch.
»Weißt du was?«, sagte sie. »Weißt du was? Ich hab gleich gewusst, dass du ... dass du ... mir Ärger machen wirst.«
Sie stolperte weiter. Adam schob die Hand unter ihren Ellbogen und stützte sie. Mit der anderen Hand holte er sein Handy heraus und tippte eine SMS an Cem: Sie würden sich morgen sehen. Dann schaute er sich nach einem Taxi um.
Keins in Sichtweite.
»Lea, wo wohnst du?«
»Weißt du ... das letzte Mal, dass ich Tequila getrunken hab, das war ... das war, als David und ich eine Wohnung gefunden ham.« Sie runzelte angestrengt die Stirn. »Hätte die Finger von den Dingern lassen sollen. Hab nich mehr getanzt, seit die alte Lea ... in der Versoff... in der Versenkung verschwunden is'. Aber ich hab gedacht, ich würd' mich besser fühlen.«
»Aber das hast du nicht?«, riet er und führte sie zum Parkplatz. Er wollte Cems Chauffeur bitten, sie heimzufahren und dann wieder herzukommen.
»Nee. Schuss in'n Ofen.«
Sie konnte sich mittlerweile kaum noch auf den Beinen halten. Adam hatte Erbarmen, bückte sich und hob sie schwungvoll hoch. Abermals blinzelte sie ihn an, doch diesmal waren ihre herrlichen grünen Augen nur noch Zentimeter von den seinen entfernt.
»Du trägs' mich ja«, sagte sie lächelnd. Die Sirene hatte sich in ein kleines Mädchen verwandelt. Wie schaffte sie es nur, dass er sie im einen Moment begehrte, im nächsten Augenblick dagegen nur noch beschützen wollte?
»Bist 'n netter Kerl, oder?«, murmelte sie.
Er lächelte. Fast wünschte er, kein netter Kerl zu sein, denn nette Kerle sind Gentlemen, wenn es um betrunkene Frauen geht. »Du brauchst keine Angst zu haben, Lea.«
Sie schaute ihn ein paar Sekunden lang an, dann ließ sie ihren Kopf auf seine Schulter sinken und schlief ein.